„Die Russen haben uns von unserem Eingemachten befreit“

„Plötzlich tauchen Pelzmützen auf dem Oder-Deich auf!“ — wie der Krieg nach Deutschland zurückkehrte, was die Bewohner bis heute beschäftigt. Auch die Spuren der Kämpfe um die erste Oder-Querung sind heute noch sichtbar und werden es noch lange bleiben. So wurden gerade erst Überreste von einundzwanzig sowjetischen Soldaten im Oderbruch entdeckt.

Foto: Ralf Herzig

Es gibt Spuren des Zweiten Weltkriegs, die sieht man nicht. Doch sie können sogar lebensgefährlich sein. Wer in der platten Gegend zwischen Oder und dem Höhenzug um das brandenburgische Städtchen Seelow heute Alleebäume mit der Kettensäge schneidet, kennt diese latente Bedrohung: viele der mächtigen Stämme sind gespickt mit Granatsplittern und anderen Geschossresten.

Manche Erinnerungen an jene Zeit sind hier hingegen so lebendig, als wären die Kämpfe gerade erst zu Ende gegangen.

Zuerst sahen wir nur die Pelzmützen auf dem Oderdamm. Aber wir wussten sofort: die Russen sind da. Wenige Minuten später standen die ersten Rotarmisten bereits in unserer guten Stube und riefen: Halt, keine Bewegung!

Sirko Rochlitz erzählt es so, als wäre er vor gut 73 Jahren dabei gewesen. Dabei ist der Wirt der Kienitzer Gaststätte «Am Hafen erst 45 Jahre alt. Aber er und seine Frau Antje kennen jeden Satz seiner Großmutter Charlotte, die die Vorausabteilungen der 1. Weißrussischen Front wohl als erste am Westufer der zugefrorenen Oder entdeckte. Denn die Gaststätte auf der Deichkrone liegt genau gegenüber des damals baumlosen Mitteldamms, der den Hafen vom Strom trennt. Das mit Flüchtlingen überfüllte Dorf war militärisch völlig unvorbereitet.

Niemand rechnete damit, dass die Rote Armee ausgerechnet in Kienitz den ersten Brückenkopf errichten würde. Auf der heute polnischen Seite der Oder war ja nur Morast und Wald.

Antje und Sirko Rochlitz. Foto: Ralf Herzig

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Tatsächlich begannen in dem kleinen Oderdorf, der erste Ort des heutigen Deutschland, den die Rote Armee auf dem Weg nach Berlin erreichte, die Vorbereitungen für die letzte große Feldschlacht in Europa.

Rasch setzte Tauwetter ein. Nur wenige Geschütze und Granatwerfer kamen über die Oder. Die ersten Panzer brachen bereits im Eis ein, schweres Gerät blieb zunehmend im Modder des Winterhafens stecken, erzählt Rochlitz.

Erst als Pioniere eine Holzbrücke knapp unter der Wasseroberfläche errichteten, kam der Nachschub ins Rollen. Über einen südlicheren Oder-Brückenkopf bei Reitwein und weiteren Übergängen wurden bis Anfang April 1945 rund 500.000 sowjetische und polnische Soldaten im Oderbruch zusammengeführt. Doch bis diese Stärke erreicht war, leistete die Wehrmacht erbitterten Widerstand. Otto Kuchenbauer vom Fahnenjunker-Grenadier-Regiment 1242 sollte die russischen Kampftruppen im Gut Klessin nahe Reitwein zumindest eindämmen.

Unsere Einheit bestand vor allem aus 15- und 16-jährigen Burschen und alten Männern, erinnert sich Kuchenbauer. Nach einem ersten Vorstoß kam die Kompanie unter Dauerfeuer. Allein auf unseren Abschnitt feuerten die Russen rund 10.000 Granaten aus allen Kalibern ab. Danach wurden die deutschen Linien mit Panzern angegriffen. Neben mir lagen blutjunge Soldaten im Schützengraben, die heulten und riefen pausenlos nach ihren Müttern.

Zerstörungen in Kienitz. Foto: Bundesarchiv | Wikipedia

Kuchenbauer schoss im Nahkampf noch einen Panzer ab, kurz danach wurde er verwundet: ein Scharfschütze durchschoss seine rechte Schulter, er kam in ein Lazarett, weg von der Front.

Es ist eigentlich ein Wunder, dass ich heim gekommen bin, sagt der 95-jährige aus Donauwörth.

Einst war der Grafiker ein begeisterter Hitlerjunge. Der Krieg, in dem der junge Offizier insgesamt sechs Mal verwundet wurde, machte ihn zum NS-Gegner.

Das waren Lumpen und Verbrecher, die uns erst verführt und dann erbarmungslos in den Tod gehetzt haben. Gerade durch die aktuellen Bilder aus der Ostukraine sind seine Erinnerungen so präsent wie lange nicht mehr. Beklemmend sei es gewesen, wenn der Kompaniemelder zu mir kam und berichtete, dass schon wieder einer gefallen war.

Kuchenbauer hofft inständig, dass Europa von einer neuerlichen Katastrophe verschont bleibt.

Meine Generation hat leidvoll erfahren müssen, dass es keinen Krieg gibt, der die Probleme dieser Welt jemals würde lösen können.

Foto: Ralf Herzig

Vor 73 Jahren war die Rote Armee im Oderbruch nicht mehr aufzuhalten. Ihr standen rund 140.000 Wehrmachtsangehörige und mangelhaft ausgebildete und schlecht ausgerüstete Volkssturmeinheiten gegenüber. Um das Oderdorf Kienitz tobten die Kämpfe 76 Tage lang.

Zuerst wurden die russischen Einheiten an beiden Oderufern aus der Luft angegriffen und dabei auch zahlreiche Flüchtlinge getötet, die in den im Hafen festgemachten Kähnen und Booten Schutz suchten. Dann versuchte die Wehrmacht den damals weitaus größeren Ort wieder einzunehmen. Laut Ortschronik zählte Kienitz 1925 noch rund 1.500 Einwohner. Nach den Kämpfen, bei denen über 80 Prozent der Häuser und Nebengebäude zerstört wurden, kehrten gerade mal rund 100 Personen zurück.

Das ganze Dorf war von tiefen Gräben durchzogen. Die Front verlief buchstäblich zwischen den Stallungen und es ging über viele Tage immer wieder hin und her, erinnert sich ein alter Mann am Dorfplatz.

Hier, wo seit 1972 ein sowjetischer Panzer vom Typ T-34 als Denkmal an die Befreiung auf seinem Sockel thront, sei kein Stein auf dem anderen geblieben.

Foto: Ralf Herzig

Als Charlotte Rochlitz im April 1945 zurückkehrte, fehlte der Gaststätte, die sich seit 1918 in Familienbesitz befindet, fast das gesamte Obergeschoss. Den angebauten großen Tanzsaal hatten die Rotarmisten in einen Pferdestall verwandelt. Wo der Mist damals lag, kann man heute noch sehen: dort wurde das Parkett später durch Dielen ersetzt. Die Kirche mit ihrem hohen Turm, von den Offizieren als Ausguck über die weite Niederung genutzt, war nur noch eine Ruine. Im Gegensatz zu einer hochschwangeren Nachbarin, die erst ihr Kind verlor und dann mehrfach vergewaltigt wurde, blieb Oma Rochlitz unversehrt.

Meine Großmutter hat sich bis zur Evakuierung östlich der Oder immer direkt an den Kommandanten gewandt und gefragt, wo sie sicher sei, erzählt Sirko Rochlitz. Der habe geantwortet, er könne zwar seine Augen nicht überall haben, aber sie solle besser nicht im Schulgebäude übernachten. Das war ihr Glück.

Später stellte sich heraus, dass dort Frauen reihenweise misshandelt wurden. Die Bauern wiederum beklagten den Totalverlust ihrer Viehbestände und Vorräte. Zu DDR-Zeiten spotteten Dörfler dann am offiziellen Jahrestag der Befreiung vom Faschismus gern, die Russen haben uns von unserem Eingemachten befreit.

Andere Kienitzer, die vor der Roten Armee Richtung Seelow geflohen waren, ließen ganz andere Erinnerungen nicht mehr los: an den Alleen hatten sie etliche junge, aufgehängte Wehrmachtssoldaten gesehen, die desertiert waren oder nicht mehr für den Führer kämpfen wollten. Sie hingen an jenen Bäumen, die auch nach 73 Jahren noch für Gefahr sorgen.

von Peter Gärtner · Kienitz ■

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