Am ersten Mai bringe ich dich um

Offiziell waren 9,6 Millionen Deutsche mindestens einmal im Leben Stalking-Opfer. Was in Russland als erfundenes Problem kleingeredet wird, ist in Deutschland eine ernste Straftat. Dennoch ist es schwierig, Stalking nachzuweisen, denn die Grenzen sind fließend und die Tatbestände oft uneindeutig. Eine Journalistin aus Berlin wurde selbst zum Opfer und musste schnell feststellen, dass keiner sie schützen kann.

Foto: pixabay.com (CC0 Public Domain)

Ein armer Beamter sieht im Zirkus eine hübsche Fürstin und verliebt sich unsterblich in sie. Am Anfang überhäuft er seine Angebetete mit Liebesbriefen, später schickt er ihr ein mit seltenem grünen Granat besetztes Armband, — die Handlung in der Erzählung „Granatarmband“ von Alexander Kuprin basiert auf einer wahren Begebenheit. Hätte sich diese Geschichte nicht vor einhundert Jahren in Russland zugetragen, sondern heutzutage in Deutschland, wäre es ein Tatbestand nach dem Paragraphen 238 des deutschen Strafgesetzbuches.

Stalking — eine andauernde und unerwünschte Verfolgung einer anderen Person — wird seit 2007 mit Geld- oder gar einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren belegt. Ähnliche Rechtsnormen existieren in der Schweiz, in Österreich, Italien und weiteren europäischen Ländern sowie in den USA.

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Vor einem halben Jahr trat Doris in mein Leben. Eine Frau, die ich zuvor nie gesehen hatte und die sich meinen Tod wünscht.

Doris ist 53 und die Frau meines ehemaligen Arbeitskollegen, mit dem ich ab und an beruflich zu tun habe. Seit vielen Jahren leidet sie — wie ich später erfahre — an Schizophrenie und Paranoia. In Remissionsphasen reicht die verordnete Medizin, doch während der akuten Krankheitsschübe ist sie in ihrer eigenen Welt gefangen und hat bereits mehrere Selbstmordversuche hinter sich.

Im vergangenen Frühling hat Doris einen Schub und wird in einer Klinik für Psychiatrie aufgenommen. Jegliche Medikamente lehnt sie ab, weil die Ärzte damit „ihren Verstand benebeln“ würden. Doch ohne diese notwendigen Arzneimittel entsteht in Doris’ Kopf ein krankhaftes Puzzlebild: solange sie nicht zuhause ist, geht ihr Mann mit mir fremd. Sie glaubt, unsere Romanze dauere schon länger an, wir hätten sogar ein gemeinsames Kind. Später erklären mir die Ärzte, dass Doris mich in ihre paranoide Welt „aufgenommen“ hätte, ihre ausgedachte Geschichte wirklich glaube und nicht umzustimmen sei.

Letztendlich bricht Doris aus der Geschlossenen aus und beginnt eine abstruse Jagd — eine Jagd auf mich. Sie findet im Telefonbuch meine Nummer und ruft mich an, immer wieder, ununterbrochen, bis der Akku meines Handys leer wird. Doris hinterlässt Nachrichten auf dem Anrufbeantworter, fordert ein Treffen, ein Geständnis meinerseits. Je nach ihrer Laune sind es Flüche („Dass dein Kind behindert auf die Welt kommt!“), Wehklagen („Wie alt bist du? Ich war auch mal jung! Was willst du mit einem verheirateten Mann?“) oder Kompromissversuche („Gib zu, dass du mit ihm schläfst — und ich lasse dich in Ruhe“).


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Gleichzeitig bekomme ich Dutzende SMS- und WhatsApp-Nachrichten. Ellenlange Texte, von Tag zu Tag absurder und zusammenhangloser. In Großbuchstaben, ohne Satzzeichen. Mit Drohungen und Anschuldigungen. Irgendwann gehen ihr die Worte aus und werden durch Smileys ersetzt. Aus meinem iPhone glotzen mich hunderte zähnefletschende Fratzen und rote Teufelchen an.

Doris hat einen Plan. Sie findet heraus, wo ich wohne, und wartet vor meiner Haustür. Sie läuft die Treppe herauf und fordert, dass wir (in ihrer Phantasie ist ihr Mann ebenfalls mit mir in der Wohnung) rauskommen und uns stellen. Ich lasse daraufhin nicht nur meine Telefonnummer ändern, sondern ziehe um und beantrage eine Auskunftssperre meiner Daten. Daraufhin geht Doris zur Ausländerbehörde und behauptet, ich wäre mit gefälschten Papieren nach Deutschland gekommen. Auch vor dem Büro wartet sie auf mich regelmäßig, doch zum Glück gibt es bei uns Gleitzeiten, Security und mehrere Ausgänge.

Doris „entdeckt“ bei sich zuhause „Beweise“ für die Untreue ihres Mannes: etwa einen Zettel mit draufgekritzeltem „K“ („Ksenia“!), ein Tütchen Zucker aus einem italienischen Café („Ihr wart also zusammen in Rom!“) und Flecken auf der ehelichen Matratze. Die Spirale ihrer krankhaften Phantasie dreht sich immer schneller und eines Nachts schickt sie mir folgende verzweifelte Nachricht: „Ich weiß alles. Ich habe genügend Beweise für eure Affäre. Da du dich nicht mit mir treffen willst, gehe ich für immer. Amen.“

Mit dem Wissen von ihren bisherigen Suizidversuchen verständige ich sofort die Polizei. Doris jubelt — endlich eine Reaktion meinerseits!

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„Ein Stalker will Aufmerksamkeit um jeden Preis. Sein ganzes Verhalten zielt auf ständige Omnipräsenz beim Opfer ab. Er will bemerkt werden und in Erinnerung bleiben. Sein Hauptziel ist das Aufrechterhalten der ’Beziehung’ zum Opfer“ — erklärt Olga Siepelmeyer, Leiterin der Beratung bei „Stop-Stalking“. Sie kommt aus Russland, berät auch russischsprachige Kunden, die mit Stalking in Berührung kommen — sowohl Opfer als auch Täter.

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Stalking ist in Deutschland ein weit verbreitetes Problem. Jährlich werden um die 25.000 Stalking-Fälle bei der Polizei registriert. Die größte Umfrage zu diesem Thema zeigte, dass 12 Prozent der Deutschen (ca. 9,6 Millionen Menschen) mindestens einmal zum Opfer von Stalking wurden. Die Dunkelziffer ist weitaus höher, denn viele Opfer suchen keine Hilfe und versuchen, den Stalker in Eigenregie „abzuschütteln“: Im Prinzip bin ich eines dieser inoffiziellen Opfer.

„Völlig richtig, dass Sie keine Anzeige erstatten“ — unterstützt mich unerwartet ein älterer Polizeibeamter, der mich im Nachgang zu Doris’ nächtlicher Aktion als Zeugin vernimmt. „Sie wartet nur auf Ihre Reaktion, um dann richtig loszulegen“. Es stellt sich heraus, dass der Sachbearbeiter eine spezielle Weiterbildung im Umgang mit Stalkern und deren Opfern absolviert hat. In Berlin hat jedes Polizeipräsidium einen Stalking-Experten.

„Was soll ich denn nun tun?“ — frage ich ihn.

„Abwarten. Halten Sie durch, solange Sie können. Eine Anzeige zu erstatten, ist selbstverständlich Ihr gutes Recht, und diesen Trumpf können Sie jederzeit ausspielen. Aber meine langjährige Erfahrung zeigt, dass sie nicht locker lassen wird. Und außerdem… ich will Sie nicht beunruhigen, aber seien Sie vorsichtig. Sie findet Sie überall“.

Somit ist klar: Die Polizei kann und wird mir im Moment nicht helfen.

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Der häufigste Stalker ist der verlassene Partner. Sie denkt, dass die Beziehung schon lange in die Brüche gegangen ist und sucht nur nach einer passenden Gelegenheit, um Schluss zu machen. Doch er merkt davon gar nichts, glaubt an die unsterbliche Liebe und träumt von gemeinsamen Enkeln. Verlässt sie ihn, ist für ihn der Weltuntergang vorprogrammiert und er fängt an, sie auf Schritt und Tritt zu verfolgen.

Immerhin gibt es dafür in der heutigen medienbestimmten Welt nahezu unerschöpfliche Möglichkeiten. Am beliebtesten ist das Cyber-Stalking: Spionage in sozialen Netzwerken, Flutwellen an Nachrichten per E-Mail oder über zahlreiche Messenger-Dienste sowie Kontaktaufnahme zum sozialen Umfeld des Opfers im Internet, Verfolgung und Verleumdung des Opfers mittels Fake-Accounts…

Foto: pixabay.com (CC0 Public Domain)

Der nächste Stalker-Typ ist der „unfähige Liebhaber“ — so wie der Protagonist im erwähnten Werk Kuprins. Ein beziehungsunfähiger Mann, der seiner eigenen Besessenheit zum Opfer fällt. Er sieht eine Frau an der Bushaltestelle — und verliebt sich unsterblich. Er bildet sich ein, dass seine Gefühle erwidert werden und fängt an, seine Angebetete zu verfolgen. Findet ihren Namen und ihre Adresse heraus, verfolgt sie auf dem Weg zur Arbeit und in der Freizeit, schaut in ihren Einkaufswagen im Supermarkt und merkt sich den Betrag, den sie an der Kasse bezahlt. So ein auf den ersten Blick harmloser „Loser“ kann sehr gefährlich werden, denn dieser Typ Stalker trägt oft ein Messer oder andere Waffe bei sich. Im Übrigen sind laut einer weltweiten Statistik 80 Prozent aller Stalker männlich.

Doris ist der dritte Typ, Stalker aus Rache. Es kann ein gefeuerter Mitarbeiter sein oder die gehörnte Ehefrau. Oftmals ist Stalking ein Begleitsymptom zu tieferliegenden psychischen Problemen wie eine akute Psychose oder Liebeswahn.

„Ein Stalker kann sehr weit gehen“ — sagt Olga Siepelmeyer. „Wir wissen aus der Intimizid-Statistik, dass in 76 Prozent der Fälle ein Stalking-Fall der Tat vorausging“ (Intimizid ist ein Fachbegriff für die Tötung des Intimpartners).

Im Jahre 2014 erregten in Berlin gleich zwei Tötungsdelikte Aufsehen, bei denen die Frauen durch stalkende Ex-Partner ermordet wurden. Alle im Umfeld wussten Bescheid, auch die Polizei war involviert, die Opfer suchten Hilfe, doch keiner konnte die Täter stoppen.

In den meisten Fällen wird Stalking jedoch nicht körperlich, sondern auf der psychischen Ebene ausgeübt.

Die Experten wissen: von Angstzuständen und Nervosität über Schlaflosigkeit und Alpträume bis hin zu Panikattacken und gar schweren Depressionen — die psychische Belastung eines Stalking-Opfers ist enorm, wenn der Täter nicht rechtzeitig gebremst wird. Ich entdecke wenige Monate nach der Stalking-Erfahrung meine ersten grauen Haare, die leblosen Zeugen innerer Qualen.

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Es gibt in Deutschland entsprechende Gesetze, geschulte Spezialisten und Beratungsstellen. Jedoch landen von jährlich 25.000 Anzeigen nur etwa drei- bis vierhundert Fälle tatsächlich vor Gericht. Eine wirkliche Hilfe zu finden, ist für die Stalkingopfer in Deutschland sehr schwer, während die Täter sich oftmals ungestraft in Sicherheit wähnen. Davon spricht auch Silvia Meixner, Autorin des Buches „Gestalkt — Tagebuch der Angst: Wie ich mich gegen meinen Verfolger zur Wehr setze“: Ein Unbekannter terrorisiert sie drei Jahre lang. Eines Tages ruft er sie an und sagt klipp und klar: „Silvia, am 1. Mai bringe ich dich um“.

Ihr — meiner Kollegin und Leidensgenossin — wird von der Polizei ebenfalls von einer Anzeige abgeraten. Sie sagt dem aufnehmenden Polizisten, dass sie eine Vermutung habe, wer ihr Verfolger sei, und bekommt als Antwort: „Zeigen Sie ihn an, laufen Sie die Gefahr, einer Gegenanzeige wegen Verleumdung zu bekommen“. Silvia Meixner schreibt in ihrem Buch, dass viele Opfer, die von einer offiziellen Stelle einmal eine derartige Abfuhr bekommen, sich nie wieder Hilfe von außerhalb suchen.

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Noch haben die Experten keine eindeutige Meinung darüber, wie sich Stalking katalogisieren lässt. Ist es eine psychische Krankheit, eine Sucht oder ein Entzugssyndrom? In Berlin spricht man meistens von einem „problematischen Verhalten“ als Folge persönlicher Schwierigkeiten.

Es gibt deutschlandweit viele Beratungsstellen für Stalkingopfer. Doch die Berliner Organisation „Stop-Stalking“ wurde ursprünglich als Anlaufstelle für die Täter gegründet. Jährlich suchen dort etwa 130 Stalker professionelle Hilfe. In der Tat ist es für sie mindestens genauso schwer, das Erlebte zu verarbeiten, wie für deren Opfer.

„Meinen Sie, es ist leicht und angenehm, ein Stalker zu sein? — fragt Olga Siepelmeyer. — Sein Lebenssinn besteht nur aus der Verfolgung dieser einen Person. Er fühlt sich schlecht, er ist verzweifelt, in einer Spirale negativer Emotionen gefangen. Dabei ist es ihm durchaus bewusst, dass er sich strafbar macht“.

Kuprins Protagonist schickt schließlich einen Abschiedsbrief an die Fürstin und begeht Selbstmord.

Ich sehe, dass Doris sich fertig macht. Sie leidet, weint, quält sich in ihrem eigenen Wahn, einmal verletzt sie sich. Dann ist sie weg, zurück bleibt ein verzweifelter Brief.

Gefunden wird sie im Hotelzimmer in einer fremden Stadt. Zum Glück kommt die Hilfe noch rechtzeitig. Der Polizeistreife erklärt sie, ich würde sie verfolgen.

Xenia Maximova · Berlin
aus dem Russischen Olga Fox ■


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Der Beitrag auf Russisch

По официальным данным 9,6 миллиона немцев хотя бы раз становились жертвами сталкинга. Если в России от сталкинга отмахиваются, как от надуманной проблемы, то в Германии он — уголовно наказуемое преступление. Но грани факта преследования слишком размыты, а обстоятельства часто неоднозначны. Журналистка из Берлина сама стала жертвой и поняла: защитить ее некому.

«Первого мая я тебя убью» →