(K)ein russischer „Kirschgarten“ – Tschechow im Landestheater Niederbayern

Tschechow ist in der deutschen Theaterwelt sehr beliebt, und „Der Kirschgarten“ ist eines seiner meistaufgeführten Stücke. Alleine in Bayern kann man in der aktuellen Spielzeit zwei Interpretationen des „Kirschgartens“ sehen: bei den Kammerspielen in München sowie in Landshut, Straubing und Passau, wo das Landestheater Niederbayern spielt. Letztere sah sich unsere Autorin Elena Schlegel an und ist nun überzeugt: Tschechow – das einmalige Phänomen der russischen Kultur – ist ein sehr europäischer Schriftsteller.

Foto: Peter Litvai / Landestheater Niederbayern

Die Schauspieler versetzen sich gekonnt in ihre Figuren – auch sprachlich. Hin und wieder bauen sie russische Wörter in ihre Rufe und Monologe ein, meist witzig entstellt. Akzentfrei spricht lediglich Ella Schulz – hier merkt man, dass Russisch ihre Muttersprache ist. Anja, durch Ella Schulz gespielt, erzählt den präfinalen Monolog zur Hälfte auf Russisch, beklagt zusammen mit der Mutter Ranewskaja das Schicksal des Kirschgartens. Die gelungene Mischung aus russischen und deutschen Sätzen ist für jeden verständlich und anrührend.

Der betrunkene Simeonow-Pischtschik, gespielt von Stefan Sieh, interpretiert „á la russe“ auf seine eigene Art und versucht, „Moskau, Moskau“ von Dschingis Khan zu singen und dazu zu tanzen. Dabei kann er kein einziges verständliches Wort von sich geben, egal in welcher Sprache: er ist eben sturzbesoffen.

Ranewskaja mit Gefolge betritt das Familienanwesen zu den Klängen der Band „Leningrad“ (moderne russische Band mit fragwürdigem Repertoire, u.a. obszönen Texten. – Elena Schlegel).

Wobei damit die Liste der „gewollt russisch wirkenden“ Elemente des Theaterstücks auch schon erschöpft ist. Der Rest ist kosmopolitisch. Jeder versteht, was die Helden bewegt, warum sie himmelhochjauchzend oder zu Tode betrübt sind.

Foto: Peter Litvai / Landestheater Niederbayern

Himmelhochjauchzend oder zu Tode betrübt?

Der Regisseur André Bücker erinnert daran, dass Tschechow sein Stück mit „Komödie“ untertitelt hatte, und umgeht gekonnt den „Kommunikationsdrama“ – Stempel, den Tschechows Werke auf der Bühne oft zu Unrecht aufgedrückt bekommen. Statt zuviel Sprache und Gerede wird hier aufs Visuelle zurückgegriffen, teilweise auf eine skurrile bis absurde Art – durchaus Tschechowsche Ungereimtheiten und seltsame Zufälle.

So der forsche Lopachin, exzellent interpretiert von David Moorbach, ein Luftschlösserbauer mit Augen, die an einen traurigen kranken Hund erinnern. Seine Argumente werden nicht nur nicht beachtet – sie werden nicht einmal gehört. Er läuft die Bühne auf und ab, in den Händen eine zerknitterte, meterlange Papierrolle – der innovative Projektplan zur Umgestaltung des Gartens. Er schlägt verzweifelt die Hände über dem Kopf zusammen, den Plan zu diesem Zweck zwischen den Oberschenkeln eingeklemmt – ein Sinnbild der Verzweiflung, die im Grunde zum Abholzen führen wird.

Der Hellseher und armer Student Petja Trofimow, dargestellt von Jochen Decker, sinniert über die Zukunft, über das Schicksal der gesamten Welt – und trägt Hosen, die aus einem alten Hemd geschneidert wurden, offenbar als Armutszeugnis. Als Ranewskaja ihn tadelt, er sei absurd, hat sie gar nicht so sehr Unrecht.

So wie Petjas Hemd-Hose, haben Beinkleider in diesem Stück eine feste Rolle.

Dunja läuft mit „freigelegter“ langer Unterhose durch das Anwesen. Offensichtlich zwingt die Hitze sie dazu, den Saum des Kleides in die Unterwäsche zu stopfen. Dabei ist die Hälfte der Helden in Pelz gekleidet – wohl zur Verdeutlichung der Vielseitigkeit des „typisch russischen“ Wetters. Anja spaziert in Leggings herum. Ebenso die adelige betagte Dame, die Gutsbesitzerin Ranewskaja selbst – auch mit diesem neumodischen, jugendlichen Beinkleid! Gajew dagegen hat eine zu breite, zu große, zu formlose Hose an – die er ständig verliert.

Foto: Peter Litvai / Landestheater Niederbayern

Die Hose und der Schrank

Mit Gajew ist alles klar: Olaf Schürmann versucht mit seinem Helden, in einer edlen Pose innezuhalten. Er zieht den Bauch ein, doch die Hose…In ähnlicher Art wird auch sein Respekt vor dem geehrten Schrank dargestellt.

Ach, dieser Schrank! Er ist beinahe der Hauptpunkt der Handlung. Er nimmt die ganze Bühne ein, dreht sich, gestaltet dabei das Bühnenbild um. Mal ist er offen, als Durchgang zum Garten, mal ist er zu und schneidet somit die Helden von der Außenwelt ab. Geht es ganz heiß zur Sache, fallen von ihm Stücke ab, die der noble Firs eilig zurück an ihren Platz bastelt. Und ganz am Schluss, als der von seiner eigenen Nörgelei erschöpfte Firs (Joachim Vollrath) erkennt, dass er im zugenagelten Haus vergessen wurde, wird dieser Schrank…

Stopp! An dieser Stelle wird nichts verraten. Wenn jemand das Stück sehen möchte, dann soll er vor Überraschung auf seinem Stuhl hochspringen, so wie das restliche Publikum.

Foto: Peter Litvai / Landestheater Niederbayern

Moral der Geschichte

Netterweise haben die Schöpfer des Bühnenstücks darauf verzichtet, eine Moral einzubauen. Auch das ist durchaus ein tschechowsches Element. Liest man Tschechow ohne Vorwort und ideologische Kommentare, erkennt man, dass er Mitleid empfindet – aber keine Moral vorgibt. Die Geschichte ist zu Ende, Punkt. Der bunte Adelshaufen unter Führung Ranewskajas ist durchgerauscht – tschüss, totgetrampelter Kirschgarten!

Die Geschichte hat kein festes Ablaufprogramm und sieht auch keinen Kampf mit den Gegnern der Handlung vor. Sie macht lediglich einen unabwendbaren Schicksalsknick deutlich und zeigt die Menschen, über deren Seelen der Knick verläuft. Der Zuschauer, der in seinem Leben sicherlich ebenfalls den ein oder anderen Knick – ob in seinem eigenen Schicksal oder globalpolitisch – (mit)erlebt hat, versteht: Hier gibt es kein Richtig oder Falsch, keine Guten oder Bösen – alle auf einem Haufen.

Die Figur Ranewskajas, verkörpert durch Paula Maria Kirschner, ist hier unverzichtbar. Sie ist eine talentierte Schauspielerin, spielt eine bunte Vielfalt an Charakteren – von Hexen (zum Beispiel in „Hänsel und Gretel“), über die Eiskönigin, bis hin zum lauten Dorfweib („Madam Bäurin“). Doch in der Darstellung der Rolle Ranewskajas dominiert die Bescheidenheit. Die Hauptfigur des „Kirschgartens“ hält sich im Hintergrund und hindert die restlichen Charaktere nicht daran, sich selbst zu „verwirklichen“.


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Jede Figur hat ihren eigenen Auftritt, wie auf einer Zirkusmanege. Mal ein Clown, mal ein Akrobat, mal ein Musiker („Moskau, Moskau“). Die Gouvernante Charlotta Iwanowna (Antonia Reidel) führt sogar Zirkustricks auf, doch auch ungelenk, obwohl sie aus einer Zirkusfamilie stammt.

Ranewskaja spielt keinem von ihnen in die Karten, doch die ist ein fester Bestandteil des Ganzen. Und jede Figur verkörpert ein Stückchen ihrer inneren Zerrissenheit. Und was ist dieser ganze Zirkus, der vor ihren Füßen spielt, wenn nicht der Schatten ihrer Selbstzweifel, grotesk bis zur Absurdität verzerrt?

André Bücker bedient sich hier keiner gängigen „platten“ Rolle Ranewskajas, sondern interpretiert sie auf eine erfrischende Art. Sie ist keine Heldin und keine Verräterin. Keine verrückte Adlige und keine feine Aristokratin. Kein abgestürzter Geist der Vergangenheit und keine unruhige Seele auf der Suche nach der ungewissen Zukunft.

Sie ist eine schwache Frau, die sich verlaufen hatte, die erkannte, dass ihre Ära schneller als ihre Jugend (die zweite natürlich, nicht die erste) vorbei ist, sie aber irgendwie weiter leben muss. Wie, wo, mit wem? Das muss noch entschieden werden. Aber die Aufführung ist schon vorbei und hinterlässt beim Zuschauer ein – vom Regisseur gewolltes – Gefühl, dass noch nicht alles gesagt wurde.

Foto: Peter Litvai / Landestheater Niederbayern

Elena Schlegel · Passau · 12.06.2017
aus dem Russischen Olga Fox ■


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Der Beitrag auf Russisch

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