Denkmal der Zwietracht: künstliche Hysterie um das Musikfestival im Treptower Park

Viel Aufregung in der russischen Öffentlichkeit: in den größten Medien des Landes verbreiteten sich lawinenartig Informationen darüber, dass am 10. bis 11. September 2016 vor dem Sowjetischen Ehrenmal im Berliner Treptower Park das Musikfestival «Lollapalooza» stattfinden wird.

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Auch das Außenministerium der Russischen Föderation kommentierte die Nachricht. Sprecherin Marija Sacharowa teilte mit, dass «die Veranstaltung für ca. 50 Tausend Menschen auf der letzten Ruhestätte für 7500 sowjetische Soldaten stattfinden soll, die für die Befreiung Europas vom Faschismus ihr Leben gelassen hatten und dass für Russland Veranstaltungen an den Gedenkstätten inakzeptabel seien.

Wir möchten das russische Außenministerium an einige Tatsachen erinnern, die außer Acht gelassen wurden. Dann würden die Informationen einen ganz anderen Sinn bekommen.

Zur Information
Lollapalooza — ist ein amerikanisches Festival für alternative Rockmusik, das 1990 zum ersten Mal in Chicago organisiert wurde. Die letzten Jahre fand das Festival auch in Lateinamerika statt. In Berlin gab es Lollapalooza zum ersten Mal 2015 auf dem ehemaligen Flughafen Tempelhof. Da die Flughafengebäude inzwischen der Unterbringung von Flüchtlingen dienen, fand das Festival im darauffolgenden Jahr im Treptower Park und im Jahr 2017 in Hoppegarten außerhalb Berlins statt.

Tatsache Nr. 1

Das Ehrenmal im Treptower Park und der Treptower Park sind nicht gleichzusetzen, wie zahlreiche Menschen aus der Ex-UdSSR tun. Der Park ist einer der Lieblingserholungsplätze der Berliner und mit seinen 88,2 Hektar einer der größten der Hauptstadt. Das Ehrenmalgelände am Rand des Parks beträgt lediglich neun Hektar. Das Ehrenmal nimmt nur einen kleinen, wenn auch historisch wichtigen Teil des Parks ein.

Tatsache Nr. 2

«Tanz auf den Gerippen», zu dem das Festival Lollapalooza laut Frau Sacharowa werden könnte, entspricht nicht den Tatsachen. Unmittelbar auf dem Gelände des Memorials mit den 7500 Gräbern sowjetischer Soldaten sind keine Musikveranstaltungen erlaubt. Außerdem weisen die Festivalveranstalter ausdrücklich darauf hin, dass das Ehrenmal unter Denkmalschutz steht. Das bedeutet, dass von den Verantwortlichen alles unternommen wird, um das Gelände vor «Vandalismus» zu schützen.

So ist geplant, während der Konzerte einen Zaun um das Gelände zu ziehen — das sagte Sabrina Kirmse, die Pressesprecherin des Bezirksbürgermeisters Treptow-Köpenick.

Hätte man tatsächlich geplant, direkt auf dem Gelände des Ehrenmals ein Festival zu organisieren, wäre ein Riesenskandal die Folge gewesen. Es ist auch anzunehmen, dass das russische Außenministerium wohl weiß, dass dies in einem Land, das alle Kriegsopfer unabhängig von ihrer Herkunft achtet, einfach nicht möglich ist. So ein Affront würde womöglich zu diplomatischen Spannungen führen.


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Tatsache Nr. 3

In Treptower Park finden oft Großveranstaltungen statt, die von vielen Menschen besucht werden. Dies hat früher das russische Außenministerium nicht gestört. So gab es bei der Fußball-WM 2006 ein Publicviewing mit Leinwänden und Bierzelten. Damals verfolgten das WM-Geschehen über 200 000 Menschen und viele von ihnen waren, wie man sich denken kann, laut und nicht ganz nüchtern.

Die jährlichen Volksfeste zum Tag des Sieges, zu denen auf dem Gelände des Ehrenmals Tausende von Nachfahren der Befreier kommen, sind auch nicht gerade besinnlich. Ist es am Vormittag des 9. Mai noch verhältnismäßig ruhig, während die russisch- und deutschsprachigen Berliner sowie Gäste Blumen zur Erinnerung niederlegen, so gewinnt gegen Abend die Stimmung eindeutig an «Schwung».

Direkt auf dem Gelände schenken sich die Feiernden in die Plastikbecher das hochprozentige «Wässerchen» und andere alkoholischen Getränke ein und essen dazu hausgemachte Stullen. Längst nicht jeder Gast denkt daran, danach aufzuräumen, denn es gibt Wichtigeres — die Gefallenen soll man nicht nur mit Wodka gedenken, sondern mit Gesang und Tränen in den Augen. Besoffene Kerle singen vor den Gräbern Kriegslieder und fühlen sich mit einem Mal der ganzen Welt überlegen — «Was bedeutet schon Müll, wenn unsere Großväter im Krieg waren»?

Fragen Sie Herrn Milovanov (den Hausmeister des Ehrenmals aus dem ostukrainischen Lugansk), wie viel Dreck er mit seinen Kollegen vom Rasen, Bänken und Wegen des Ehrenmals am 8., 9. und 10. Mai herausholt — diese drei Tagen allein erfüllen den «Jahresplan» für den Abfall. Sicher duftet der kleine Wald um das Ehrenmal, in den die zahlreichen feiernden Besucher verschwinden, um sich zu erleichtern, nicht nach Rosenwasser.

Tatsache Nr. 4

Wer ist da auf einem Auge blind? Der Eiertanz um das Festival im Treptower Park ist ein tolles Beispiel dafür. Das russische Außenministerium scheint zu vergessen, dass der «Tanz auf den Gerippen» im Herzen von Moskau auf dem Roten Platz jährlich stattfindet, wo direkt an der Kremlmauer eine Grabstätte liegt. Dort sind rund 300 Menschen begraben: die Helden der Revolution, der Sowjetunion und weitere Persönlichkeiten des sowjetischen und russischen Staates sowie Ausländer.

Da ist es doch verwunderlich, dass Deutschland sich immer noch nicht beschwert hat, wenn russische Popmusik dezibelreich die Ruhe der weltbekannten Tochter des deutschen Volkes Clara Zetkin stört, die bekanntlich an der Kremlmauer begraben wurde.

Und gleich um die Ecke des Roten Platzes befindet sich im Alexandergarten der Grab des unbekannten Soldaten. Übernimmt man die Maßstäbe des russischen Außenministeriums bezüglich des Treptower Parks, so liegt das Grab des Unbekannten Soldaten in Moskau in unmittelbarer Nähe der Volksfeste auf dem Roten Platz. Aber diese Tatsache stört Moskau keinesfalls — Konzerte werden dort genehmigt.

Die verdrehten Informationen aber, die viele Menschen in Aufregung versetzten und suggerierten, dass «die Deutschen unsere Heiligtümer entweihen würden», sind mehr als ärgerlich — denn sie belasten das Verhältnis zwischen beiden Völkern.


Nachtrag vom 15. September 2017

Im Vorfeld der Bundestagswahl erschienen auf russischsprachigen, in Deutschland produzierten Web-Seiten erneut Desinformationen über das Ehrenmal-Gelände im Treptower Park: Angeblich fand das „Festival direkt um die ewige Flamme herum“. Die Nachricht wird mit einer schlecht gemachten Fotocollage illustriert:

Bei einer Vergrößerung des Bildes ist die Nahtstelle zwischen der Ansammlung zahlreicher junger Menschen und dem Ehrenmal deutlich zu sehen:


Maria Pawlowa · Berlin · 26.04.2016
übersetzt von Elena Nowak,
redigiert von Peter Gärtner


Der Beitrag auf Russisch: Памятник раздора: дутая истерия вокруг музыкального фестиваля в Трептов-парке →

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